Die kälteste Nacht seit
1931
Grenze zu Mexiko überschritten / Panne mit einem
Pferd / Wüstenstadt der Superlative
Abfahrt aus San Francisco: Willst du was erleben, nimmst du als
Radler den Bus. Leider habe ich keine Buserfahrung und stehe 40
Minuten vor Abfahrt an der Greyhound Busstation und finde keinen
Aufgang zur oberen Etage, wo der Bus abfährt. Es gibt nur eine
Treppe und keine andere Möglichkeit, als das Bike samt Gepäck
(40 Kilo) zu schultern und sich hinauf zu kämpfen. Das kostet
10 Minuten.
Ich brauche ein Ticket für mich (20 Dollar), eins für
das Bike (10 Dollar) und eine Bike-Kiste für 15 Dollar. Das
Ausstellen des Tickets dauert 10 Minuten; es wird eng. Mein Bus
braucht aber im Unterschied zu allen anderen Bussen nur 3 Stunden,
nicht 5 ½.
Drittes Problem: Die Kiste ist für ein Kinderrad gut, aber
nicht für meins mit Gepäckträgern vorn und hinten.
Ich werde nervös, denn es sind nur noch 10 Minuten bis zur
Abfahrt. Ich baue Räder, Pedale und Lenkerhörnchen ab,
es reicht nicht. Man sagt mir, der Bus werde nicht auf mich warten.
Plötzlich hilft mir ein Azubi; binnen einer Minute habe ich
eine riesige Kiste und das Rad verpackt.
Eigentlich wollte ich ja nach Süden, Richtung Mexiko, doch
nun bin ich auf dem Weg zum Death Valley, dem zweitheißesten
Ort der Welt. Bei der Anfahrt durch Täler und über Bergketten
zeigt sich der Winter. Die Nacht zum 29.11. war die kälteste
der Reise: 2 Grad im Zelt, das Außen- ist am Innenzelt angefroren;
in der Wasserflasche haben wir Eiswürfel. Überall dicker
Reif. Auf dem Golfplatz staunt man über unsere Zelte; noch
nie standen hier welche.
Es kostet Überwindung, in die Radklamotten zu schlüpfen,
doch in der Sonne steigen die Temperaturen schnell. Wir stellen
uns bei reichlich Müsli auf den 50 Kilometer langen Anstieg
nach Lake Isabella ein. Es geht durch riesige Orangenplantagen.
Erstaunlich, wie voll die Bäume hängen, wie groß
die Früchte sind und dass sie die Nachtfröste überstehen.
Später hören wir, dass es mit -9 Grad Celsius die kälteste
Nacht seit 1931 war.
Wir erreichen das Hochland um den Lake Isabella gegen 15 Uhr und
suchen dringend eine warme Unterkunft. Am Einkaufsmarkt lernen wir
eine ältere Frau kennen, die Geld für Kinder ärmerer
Familien sammelt und uns zur Bibliothek verweist. Die ist zu, doch
ein Mann hilft uns: Wir können im Büro seiner Frau ins
Internet. Sie arbeitet für die Verwaltung der Gemeinde und
stellt den Kontakt zur Feuerwache her: Captain Adam Graehl hilft
uns Radlern. Wir können uns in der Wache aufwärmen und
bekommen abends in einem Nebengebäude die Räume einer
Hilfsgruppe, die sich in der warmen Saison um Buschbrände kümmert
und jetzt für die Parkverwaltung des Sequoia National Forest
arbeitet. Sie fahren nachts heim; wir sind allein. Dusche, Fernseher,
Küche, alles beheizt.
Für den Folgetag lädt Adam uns nach Ridgecrest in sein
Haus ein. Das bringt über 100 Kilometer und einen 1700 Meter
hohen Pass. Am Morgen zeigt sich, dass die Nacht mit 6 Grad mild
war. Noch vor ein paar Wochen hätte ich das Kälte genannt.
Wir starten gegen 8 Uhr. Bei Gegenwind und stetig bergauf erleben
wir eine phantastische Landschaft: das gesamte Panamint Valley hinter
uns und die Ranch in front. Genau am Eingang zum Death Valley hat
Stefan den nächsten Platten, doch nach zehn gemeinsamen Erlebnissen
der Art geht es sehr schnell. Einer wechselt den neuen Schlauch,
der andere flickt den alten. Die Straße wird immer schlechter.
An der Kreuzung zum Wildrose Camp wird die Straße besser,
aber auch steiler. Ich muss 200 Meter schieben, da meine Schaltung
spinnt.
Es heißt: warm anziehen und hinunter ins Death Valley, durch
den Emigrant Canyon. Steile Felsen, eine enge Straße und der
Blick ins weite Tal, dazu die untergehende Sonne und das Farbenspiel.
Es hat sich jeder Meter gelohnt. Plötzlich steht etwas auf
der Mitte der Fahrbahn: Ein Kojote wandert gemütlich auf dem
gelben Streifen entlang. Stefan holt zur Sicherheit das Pfefferspray
raus. Viele Kojoten in diesem touristischen Gebiet wissen, dass
es an der Straße Futter gibt. Prompt stoppt ein Mann sein
Auto und gibt ihm Futter, natürlich bei laufendem Motor, nur
um Fotos zu machen. Auf die Frage, warum er nicht den Motor abstellt,
lacht er nur.
Wellig geht es immer am Badwater Lake entlang. Er liegt unter dem
Meeresspiegel; in der Nähe befindet sich mit minus 86 Meter
der tiefste Punkt der USA.
Die Straße ist komplett neu gemacht. Man sieht noch sehr gut,
wie die Schlammmassen vom August sie über weite Flächen
begraben hatten. Es muss der Wahnsinn gewesen sein! Man kann es
sich im Angesicht der Wüste nicht vorstellen, aber wenn hier
der Regen kommt, ist alles zu spät.
Auf nach Las Vegas! Wir haben nur eine Skizze und wissen, es soll
richtig hoch gehen auf dem höchsten Pass der Strecke. Gleich
hinter'm Hostel zieht es gleichmäßig bergan. Auf der
Passhöhe von etwa 800 Metern fällt unser Blick ins nächste
Tal, länger und breiter als alle Täler zuvor. Diese Weite!
Kein Wunder, dass vielen Amerikanern Europa und der Rest der Welt
sehr fern ist.
Die Abfahrt führt ins Endlose und ist von roten Felsen und
Kakteen gesäumt. Wir suchen einen Platz zum Abend, stellen
die Zelte zwischen den Kakteen in einem ausgetrockneten See auf.
Immer wenn man denkt, es kann nicht verrückter kommen, kommt
es anders: Auf dem Weg zu Rasthaus begegne ich drei Reitern, von
denen der älteste (72 Jahre) von meinem Nummernschild so begeistert
ist, dass er ein Foto möchte. Ich gebe ihm mein Rad, helfe
ihm drauf, und schon klicken die Kameras. Seine Idee, mich mit seinem
Hut aufs Pferd zu setzten, finden alle originell. Nur das Pferd
nicht. Erst lachen wir, dann sehen wir die Bescherung. Mein Hinterrad
ist eine Acht, der Lenker verbogen; die Taschen sind abgerissen.
7800 Kilometer keine einzige Speiche gebrochen und nun das! Also
alles in den Pferdetrailer und ab zum Fahrradladen nach Blue Diamond.
Doch das Rad ist nicht zu reparieren. Eine neue Felge gibt es nur
mit 32 Speichen, ich benötige jedoch 36. Also fahre ich mit
Lloyd nach Las Vegas, um eine Felge zu kaufen. Da habe ich einen
Umweg von fast 1000 Kilometern gemacht und nun komme ich mit dem
Auto in die Wüstenstadt!
Am nächsten Tag ist das Rad wieder einsatzbereit. Da es Wochenende
ist und dann die Preise um das Drei- bis Vierfache steigen, warten
wir noch einen Tag und zelten die nächste Nacht auf einem Hügel
über Las Vegas. Jede Minute startet oder landet ein Flugzeug.
Immerhin muss alles hier in die Wüste transportiert werden,
und jedes Wochenende kommen 200 000 Besucher. In der Woche kann
man jedoch für 20 Dollar zu zweit gut übernachten und
bekommt auf Grund der Angebote in den Casinos Essen und Trinken
fast umsonst.
Die Superlative überschneiden sich: Neun der zehn größten
Hotels der Welt, die höchste Achterbahn der Welt auf einem
Hoteldach, die hellste Glühlampe der Welt und immer wieder
Casinos und Spielautomaten. Nach drei Tagen will man nur weg.
Ich fahre noch zum Grand Canyon und nach San Diego, um dort Weihnachten
und Silvester zu verbringen. Dann geht es in eine neue Welt: Lateinamerika.
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